Chancen sind kaum vermeidbar. Gefahren freilich auch nicht. Risiken schon eher, einfach weil sie vom Grundsatz her nicht unvermeidlich sind. Die These hier ist: Erst Chancen und Gefahren stellen uns vor Risiken. Es kommt darauf an, was wir daraus machen, aus dem was auf uns zukommet. Die Entscheidung und das Handeln (»Umsetzung») sind entscheidend.
Chancen markieren unseren Lebensweg sekündlich. Holen wir ein wenig aus:
Am Anfang ist die Luft…
Es beginnt beim ersten Luftzug, oder schon früher: Die Sauerstoffversorgung des gerade noch fötalen Kleinkindes über die Nabelschnur nimmt unmittelbar nach der Geburt rapide ab.
Und in Ich-Form: Der Kohlendioxidgehalt meines kleinen, weichen und hilflosen Körpers nimmt rapide ab. Ein Reflex setzt ein, der meine winzigen Lungen sich das erste Mal aufblähen lässt, und ein unstillbares. existentielles Verlangen nimmt rapide zu. Da entwindet sich mein erster Schrei entwindet der kleinen Seele, nein, meinem ganzen Sein: Leben! Ich bin da!
Das immer schneller rasende Babyherz beruhigt sich jetzt unter dem Abatmen des überschüssigen Kohlendioxids und der der konstanten Zufuhr von Sauerstoff über die winzigen Lungenflügelchen. Auch tut der immense Kältereiz sein Übriges. «Waaaarrruuuuhmmm rettet mich denn niemand?!» scheint mein Schreien zu bedeuten.
Die erste Chance meines Lebens war schon erkennbar unvermeidbar, aber ich habe sie auch wie von Zauberhand ergriffen. So geht Leben. Zumindest anfangs.
Stunde für Stunde wird es jetzt neue Chancen auf mich herunterregnen: Wärme, Wasser (das kenne ich ja schon), Haut (das ist irgendwie neu) …
Und dann keimt ein unbekanntes Risiko in mir auf, denn ich war immer gut versorgt, ich war immer satt. Aber nun beginnt es in mir mit einem fundamentalen Unwohlsein, dann steigert es sich in ein Suchen, mein ganzes Sein sucht, verzweifelt, und das Unwohlsein entlädt sich in einem nahezu unstillbaren Schreien! Ich werde es später als Hunger bezeichnen.
So sind die ersten Chancen unseres Lebens. Fast programmgesteuert entladen sie sich im Normalfall fast instinktiv. Unvermeidbar, sonst würde wir nicht leben. Nicht leben können. Das Leben kommt anfangs in einem Überfluss von Chancen auf uns zu.
Leben ist – wenn man nach vorne blickt, in den kommenden Moment – immer das Ergreifen von Gelegenheiten. Oft auch das von ihnen Ergriffen-Sein. Wenn man verliebt ist, zum Beispiel. Aber das kommt später, noch sind die Dinge einfach. Und selbst, dass es so etwas wie «Dinge» gibt, kommt später.
Differenzierung bringt Gefahren und Risiko
Das ganze «Ding mit dem Leben» wird dann aber komplizierter. Und lallend bekommen recht bald die Chancen auch Namen: Mama, oder Papa, oder einfach «Das!». Speziell «Mama» ist eine Art Universalwort: Es meint einfach «Alles» oder «Leben» oder «Wärme» oder «Sicherheit» und «Nahrung». Spätestens mit «Das da» und «Das dort» fängt die Differenzierung aber an.
Die kleine Seele will sich meist gar nicht so recht auf den immer komplizierter werdenden Chancen-Kosmos einlassen. Und es ist anfangs etwas mühsam, von «Da» nach «Dort» zu kommen, vor allem ohne ein Transport-Wort, das meist wehklagend hervorgebracht wird: «Papa?» zum Beispiel.
Stimmt, anfangs bringt er Dich von da nach dort, oder eben Mama oder «Amma», die Grossmutter, ich glaube das Wort gibt es sogar im Tamilischen. Oder «nonno», zumindest für italienische Kinder.
Das Risiko, jetzt eben nicht oder nicht rechtzeitig von «Da» nach «Dort» zu kommen, steigt täglich. Jetzt hilft nur Handeln. Handeln ist das Mittel der Wahl, um Chancen zu ergreifen. Oder Bauklötze, oder Schokolade. Welch letztere wiederum das Risiko des Verhungerns um einige trügerische Minuten des Insulinschubs hinausschiebt.
Beziehungen bringen Welt
Wieder aus der in-zentrierten Brille des Winzlings: Ganz langsam wird es beziehungsreich. Hasso, der Hund zum Beispiel, gehört im Haus zwar zum «engen Kreis», den ich später «Familie» nenne. Aber schon bald merke ich, dass er vor dem Haus, auf der Wiese und im Garten irgendwie anders ist, ungezähmter, wilder, rasender, und längst nicht mehr so kuschelig.
Hund Hasso gerät im Freien leicht in den Jagdmodus, er ist da, wo er sich so richtig «Hund» fühlt: in der Natur. Hasso, merke ich, hält sich nicht lange mit Blumen-Betrachtungen auf, sondern sofort hat er eine vor ihm hinwegrasende Maus entdeckt. Er fletscht die Zähne, jagt ihr vergebens nach und holt sich in dem Versuch eine blutende Nase, ihr in das Mauseloch zu folgen.
Mir gefallen im Garten aber die Blumen, und ich reisse einen ganzen Bund samt den Wurzeln aus – ist doch egal! – und bringe ihn dem grossen Aller-Welts-Kosmos-Wort, der Mama. Statt sich zu freuen, verzieht sie jedoch das Gesicht, ruft laut aus und fängt fast an zu weinen.
Etwas stimmt nicht, merke ich: Das war nicht unser Garten, das begreife ich später. Dass die Sch…lechte Situation aber auch eine Chance war, begriff ich erst nach Jahren. Vorläufig gibt es in meinem Umfeld erstmals «böse Menschen», hier die wutentbrannte Nachbarin, die Eigentümerin des Gartens. Und der nun langsam vor sich hinwelkenden Blumen.
Auf recht eigentümliche Weise – auf einer nicht-eigenen Wiese – bin ich im übertragenen Sinne «zur Welt» gekommen. Und zugegeben, diese Chance wäre vermeidbar gewesen, aber dann wäre auch die Gelegenheit versurrt, erstmals einen ganzen Strauss auf einmal herauszureissen (lustvoll!), auch die Gelegenheit, die Allerwelts-Mutter erstmals bewusst weinen zu sehen (sehr traurig und kaum verständlich), und die seltsame und wichtige Gelegenheit, so einen ersten Anflug von eigener Schuld zu verspüren (blöd, einfach blöd!).
Scheitern und Gelingen
Für einen Moment darf ich auf eklektische Weise autobiografische «Schnipsel» verwenden: Mein Sein entfaltet sich in den kommenden Jahren auf allen Ebenen. Natur wird entdeckt, der Dorfpolizist, der «Feldschütz», der die gerade erlegten Rebhühner zum Tausch gegen frisches Obst bringt, die Rennfahrer, die mit meinem Vater tosend laute Tourenwagen testen, die vielen Familienmitglieder, die «mathematisch» äusserst interessante Knopfschachtel meiner Tante (2-Loch, 3-Loch und 4-Loch-Knöpfe; eine erregend neue Welt), die Ur-Grossmutter in der schwarzen Tracht, die immer das letzte Wort hat, und die grossen, opulenten Feste, auf denen irgendwann alle singen. Je länger, desto seltsamer.
Doch die unendlich vielen Chancen, die jede Stunde bietet, bergen auch eine Fülle oft existentieller Risiken: Aus der Nähe zu einem befreundeten Schäferhund wird nach 22 Lebensmonaten ein tödliches Risiko, als es dem grossen Tier nicht mehr gelingt, seine bislang so natürlich und sanft wirkende Dominanz durchzusetzen: Er fällt mich an, um seine Dominanz zu zeigen, und das zähnefletschende Gebiss sehe ich noch heute manchmal über mir.
Und weil in dieser Lage anscheinend eine Katastrophe alleine nicht genügt, erlebe ich in den darauffolgenden Sekunden einen völlig ausrastenden Vater (Boxer; Ex-Soldat), der das schwere Tier fast in der Luft zerreisst und den drei andere Männer daran hindern müssen, den Hund nicht mit blossen Händen zu töten. Man rief die Polizei, und der Rest ist im Dunkel des Vergessens untergegangen. Ich weiss rückblickend nicht, was das Schlimmste war an diesem Erlebnis.
Die Chance, «solche Hunde» besser zu verstehen, habe ich später mit Begeisterung ergriffen. Dem ausrastenden Vater, der sich dann irgendwann gelegentlich auch gegen mich oder die All-Mutter wandte, konnte ich kaum mehr Positives abgewinnen. Ausser einer eminenten Selbstkontrolle und einem inneren «So nicht!».
Wer hier warum scheiterte, ist fast müssig nachzusehen. Aber es war auch Gelingen in allem. In allem. Auch als ich an einem Sommernachmittag, ein wenig älter als zwei Jahre, in den Familienpool fiel und sprichwörtlich ertrank, weil es keiner merkte. Innere Bilder, die man nie vergisst. Mein stets etwas heftiger Vater – was ein Glück, eben! – rettete mich und ihm gelang die Wiederbelebung.
Die Chance? Es hat Jahre gedauert, der Stress war riesig, aber irgendwann habe ich gelernt, so zu schwimmen, dass ein Ertrinken fast unmöglich schien. Auch, als ich einmal auf dem offenen Meer verloren ging.

Chance und Zeiterlebnis
Rückblickend: Unser Zeiterlebnis hat fundamental mit der Wahrnehmung von Chancen und Gefahren zu tun. Ob wir bei jeder ergriffenen Chance gleich von einer «glücklichen Fügung» (neudeutsch: «Serendipity») reden können, muss dahingestellt bleiben.
Fest steht aber, dass die Wahrnehmung von den Dingen, die uns stündlich entgegenkommen (etwa als «Zeitstrom» zu verstehen), darüber entscheiden, ob wir Chancen oder Gefahren sehen. Ein Blick in ein bekanntes Wörterbuch gibt eine brauchbare Definition der Zusammenhänge:
Im Wörterbuch wird die Chance als „dargebotene, günstige Möglichkeit oder Gelegenheit“ definiert. Chancen seien demnach «stets mit einer positiven Aussicht verbunden», negative Aussichten hiessen Gefahren. «Risiko» dagegen ist ein offener Begriff, bei dem zu Anfang nicht klar ist, ob positive oder negative Folgen eintreten werden.
Das ist der Grund, warum sich verschiedene Wissenschaften (Wirtschaft, Mathematik, Philosophie) mit Chancen, Gefahren und Risiken befassen.
«Mindset», innere Einstellung, ist dabei die Art, wie wir der Zeit (als Strom auf uns treffender Ereignisse) begegnen. Sonnenklar: Wir müssen Gefahren sehen, die damit sehr oft einhergehenden «erstaunlichen Gelegenheiten» übersehen wir aber oft.
Entscheidungen in Gefahrenlagen
In allem empfiehlt sich Umsicht. Auf Bergwanderungen (auch der Autor ist schon abgestürzt), in Baufragen (auch schon mal gescheitert), in Personalfragen (auch schon mal «die Falschen» eingestellt), bei der Jobwahl («hätte den Job besser nicht genommen») und bei der Partnerwahl («Verlassen» kann verkehrt sein – «den oder die Falschen heiraten» ist es definitiv).
In allem empfiehlt sich aber – dies ist ein Hinweis für ein besseres Leben und nicht einfach eine geschäftliche oder politische Methodik – ein bewusstes Innehalten und Abwägen von Gefahren und Chancen. Auch wenn dann am Ende die Entscheidung vielleicht gar nicht rational gefällt würde: Solch ein Vorgehen nennt man Verantwortung, vor sich selbst, vor der inneren Instanz, die wir «Gewissen» nennen. Oder Verantwortung vor denjenigen, denen ich verantwortlich bin. Das mag sogar eine Glaubensfrage sein.
Geschäftlich oder organisatorisch genügt es daher nicht, für alle erfolgsentscheidenden Parameter eine Risikoanalyse zu erstellen. Bekanntlich ist das ja verbreitet. Solch ein Vorgehen gibt nicht immer die erforderlich Entscheidungsgrundlage her. Denn Risiken können enorme Chancen beinhalten, und – streng betrachtet kann man Risiken gar nicht vermeiden. Sie sind meist «einfach da». Chancen und Gefahren sind meist aber ebenso wenig vermeidbar.
Das Ergreifen von Chancen aber erfordert im Kern eine tief personale (oder Gruppen-) Entscheidung, die persönliche, emotionale und ethische Komponenten beinhaltet. Solche Tiefen zu ermitteln und für eine Organisation fruchtbar zu machen braucht Erfahrung, auch Lebenserfahrung.
Denn, eine erneute Zeitkomponente: Das, was man sich «eingebrockt» hat, das muss man dann auch auslöffeln. Oft auch gegen den «Fahrtwind» des Lebens.
Leben bleibt spannend.