Reife und Alter sind nicht dasselbe. Die meisten Sprachen spiegeln das auch gut wider. Beispiele: «Sono maturato, non invecchiato», würde ich das (auf mich gemünzt) auf italienisch ausdrücken. «I have matured, not aged», kann man auf Englisch sagen.

Wie ein Wein reift, das weiss man. Wie eine Idee reift, das ist schon schwieriger zu beurteilen. Wie ein Mensch reift, darüber herrschen vermutlich mehr Meinungen, als es Menschen gibt.

Aber wie reift ein Leben?

Wenn man das Leben als Ganzes erfassen will, braucht es Erinnerungsvermögen und eine gewisse Denkkraft, und wir müssen lernen unsere eigene Geschichte zu schreiben – und sie zu erzählen. Wenn wir erkennen wollen, wie wir selbst reifen, müssen wir uns über uns selbst Rechenschaft ablegen. Durchaus in expliziter Form, nicht nur irgendwie gefühlt, sondern ausdrücklich formuliert, ja wiederholbar.

Wir müssen ein Narrativ erarbeiten, von dem wir überzeugt sind, dass es stimmt. Ein reifes Leben hat gelernt glaubwürdig zu erscheinen. Vor sich selbst, und vor anderen.

Diese Beziehungsebene unseres Lebens, die Beziehung zu uns selbst, erfordert – nennen wir es doch so – ein gesundes Narrativ der Selbstdarstellung, des authentischen Erscheinens. Sie erfordert das, weil wir so sind: zutiefst rückbezüglich, reflexiv und gleichzeitig zutiefst sozial, mit lauter «anderen Reflexiven».

Beziehung zu mir selbst: komplex und dynamisch

Mein Ansatz ist also: Mein Leben als Ganzes in den Blick zu bekommen, hat ganz enorm viel mit der Beziehung zu mir selbst zu tun.

Das Problem: Diese Beziehung zu unserem Sein ist genauso komplex wie unser Inneres selbst, sagen wir «unsere Seele» dazu.

Als Abbild seiner Komplexität und Eigenart hat die «Beziehung zu uns selbst» nicht nur – mathematisch gesagt – annähernd (es gibt ja noch das Unterbewusstsein) «Mächtigkeit» wie unser Sein selbst. Sondern sie vermittelt – in einer für uns als Menschen individuell verschiedenen Sichtweise («Brille») – ein Abbild der Bedeutungswelt, des semantischen Kosmos, unserer Seele. Jedenfalls soweit es uns überhaupt möglich ist, uns zu durchschauen. Es ist auf eine verrückte Weise möglich und unmöglich zugleich.

«Erkenne Dich selbst» (Delphi!), ist also ein «irres» Unterfangen. Dennoch… es ist eine der Grundaufgaben unseres Lebens.

Energie als Interpretamentum

Ich mache es kaum einfacher, aber – wie ich mir einbilde – wenigstens anschaulicher, wenn ich mich deshalb auf einen der erstaunlichsten Aspekte unseres Lebens konzentriere: Auf die Energie, die Lebensenergie (sagen manche), die wir haben. Man könnte diese Energie-Frage als ein Verstehens-Hilfsmittel verstehen, ein «Interpretamentum», etwas das uns hilft, uns selbst zu interpretieren, zu übersetzen.

Und dazu ein Postulat: Wenn die Energie abnimmt, sieht man das Reifen eines Lebens besser. Wohlbemerkt: Das ist nicht gleichbedeutend mit Alter oder Älter-Werden.

Ob wir Energie oder Kraft und dazu noch Visionen und umsetzbare Ziele haben oder entwickeln, all das scheint unser Leben ganz entscheidend zu bestimmen. Dazu gibt es bereits Millionen von Beiträgen, Bücher, Artikel, und extrem viele Meinungen.

Ich frage aber weiter: Was ist ein gelingender Selbstbezug? Und was macht an unserem vitalen «Energie-Management» am Ende ein gelungenes Leben aus?

Was werden wir sehen, wenn wir eines Tages zurückblicken und uns fragen: In welche Formen und Gestalten hat sich meine Lebens-Energie gegossen? Und was könnte auf meinem Grabstein stehen?

Die Antwort darauf könnte als Essenz die Wahrnehmung über uns bestimmen. Und das ist überhaupt meine Kernfrage: Was braucht es für ein gelungenes Leben? Und was ist Erfolg?

Selbstbezug als auto-ökologische Frage

Ich habe mich aus genannten Gründen entschlossen, den Selbstbezug, unser Verhältnis zu uns selbst, anhand der «Energiefrage» zu behandeln. Das klingt logisch, auto-ökologisch geradezu, ist aber – eben – selbst-bezüglich gemeint und nicht auf die äussere Natur gemünzt.

Energie scheint auf den ersten Blick das treibende Moment unseres Lebens zu sein, sein «beseelendes Etwas».

Leben ist uns als Energie gegeben. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber die vermutlich älteste Beschreibung der Mensch-Werdung ist vielleicht doch die Schönste:

«Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.» (1. Mos. 2,7)

Der «Odem des Lebens» ist diese beseelende Kraft, die all unser Leben vorwärtstreibt, zur Entfaltung, zur Reifung, zur Kraft, zur Fortpflanzung, zur Kunst, zu allen nur denkbaren Höhenflügen und Erfolgen.

Auch spricht vieles dafür, dass die Menschen echte Individuen sind, einmalig in Ausformung, Gestalt und Geschichte. Hieraus die Erkenntnis und Überzeugung, dass «ich» einmalig bin.

Selbstbezug als Handlungsgebot

Das klingt krass, da steht «Gebot». Fragen wir mal für den Moment nicht, wer da gebietet, sondern nur wie man das macht, und wagen dann noch einen kurzen Blick auf die Frage, wem das nützt.

Also: «Wie macht man Selbstbezug?». Da gibt es eine Unzahl von Weisen, wie man das anstellt. Eine der grundlegenden ist aber, dass man lernen muss, sich selbst und den anderen Menschen ein Bild von sich zu geben, das stimmt und auf das sie sich verlassen können.

Eine Empfehlung ist es daher, die eigene Geschichte zu schreiben. Eine gute Erfahrung ist es, die – oben schon kurz beschriebene – eigene Lebensenergie, die seelisch-körperlichen Kräfte zu beobachten und diese Beobachtungen wie in einem Notizbuch zu notieren. Am besten auf einem Zeitstrahl. Einige frei erfundene Beispiele:

  • «Ich konnte schon sehr früh gehen, habe aber erst sehr spät sprechen gelernt, so ungefähr mit 2 Jahren»
  • «Schon mit 5 Jahren hatte ich Freude am Blockflötenspielen, Singen gefiel mir damals aber weniger»
  • «Ich musste schon in der Grundschule ständig um meinen Platz in der Klassen-Hierarchie kämpfen. Immer war ich der Ausländer»
  • «Als ich mit 10 Jahren eine grosse Rose gemalt hatte, meinten meine Lehrer, das sei eine Fälschung. Sie war zu gut. Ich habe die Freude am Malen aber später verloren».

Klar, das muss man unbedingt nacharbeiten, einordnen, neu reflektieren. Man muss eine grosse Menge an Zusatzfragen stellen, Fragen an sich selbst, an die Eltern, die Familie, die Freunde («was denkst Du, wo sind meine Stärken?»), an Kollegen oder Berater. Das ist alles bekannt, wird aber wohl zu wenig gemacht.

Und auf diese Weise entdeckt man: «Was ist charakteristisch für mich?» (Beispiel: Liebe zur Kunst) und «Was sollte ich unbedingt vermeiden?» (z.B. Überarbeitung). Man folgt dabei eigentlich immer den Wegen seiner eigenen Lebensäusserung, seiner seelischen Energie. «Energie beobachten» wird daher zum Hilfsmittel für die Selbst-Analyse.

Bestenfalls schreibt man dann irgendwann seine eigene Autobiografie!

Es gibt aber – neben dem Schreiben der eigenen Geschichte – hundert andere Wege, sich zu entdecken, zu spüren: Bergwandern, Tanzen, Arbeiten, Sich in Gemeinschaft bewegen, Sporttreiben, Essen, Trinken, Schlafen und natürlich auch alle Arten von Intimitäten. Eigentlich alles im Leben kann zu einem guten Selbstbezug beitragen.

Erst wenn ich ein wenigstens halbwegs charakteristisches Verständnis von mir selbst habe, kann ich überhaupt authentisch sein. Das aber, dass ich mich möglichst so vermittele, wie ich bin, das darf dann guten Gewissens ein Gebot sein. Denn es nützt mir und gibt allen anderen Menschen ein wahrhaftiges Bild von mir.

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