Was «Bio» ist, glauben wir nicht erst seit Beginn der Öko-Bewegung in den 1970er-Jahren zu wissen. Aber im Grunde ist das nur der «Aufhänger», denn die hohe Bio-Affinität unserer westeuropäischen Gesellschaften ist nur ein Indiz.
Unser Verhältnis zur Natur ist sehr oft ein brüchiges, ein hochgradig emotionalisiertes und ideologisiertes, und ein überreguliertes dazu. «Natur» ist eine hochgradig vermittelte Vorstellung geworden. Wie können wir da ein umfassend «geglücktes» Verhältnis zu ihr entwickeln?
Und das, obwohl unsere «eigene Natur», unsere eigene Leiblichkeit, uns im vollen Sinne unmittelbar, das heisst, ohne Vermittlung gegeben ist. Unser Leib ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit der Teilnahme an Natur, Welt und Leben: Ohne ihn würden wir nicht geboren, und sein Verlust markiert unabwendbar das Ende unseres Lebens.
Unser Leib ist unvermittelt «da», noch bevor wir geboren werden. Und ohne ihn sind wir tot. Leben findet im Leib, Grundlage unserer eigenen Natur, statt.
Und schon sehr früh erfahren wir dann «andere Leiber»: den mütterlichen oder die geschwisterlichen. Auch Haus- oder Hoftiere sind uns «Leiber» der unmittelbaren Umgebung, der Hund, die Katze, der Wellensittich. Wenn es sie denn in unserer Welt noch gibt.
Da ist «Natur», wie wir sie aus romantischen Vorstellungen kennen, aber noch sehr weit weg. Solche «romantische Natur» ist vermittelt, übersetzt gewissermassen. Wir verherrlichen darin allzu leicht etwas, das uns in der Alltäglichkeit des Seins im Grunde fremd geworden ist.
Die romantisierte Natur ist – ungenau formuliert – das «Unberührte Draussen», das Wilde vielleicht noch, das uns doch immer wieder nahe kommt, aber eben oft «nicht richtig». Wenn es hoch kommt, erfahren wir sie im Garten oder in der «Magerversion», dem Balkonkasten.
Denn nebst der eigenen und der familiären Körpererfahrung ist uns in der menschlichen Umwelt, das «Selbst-Gemachte», Haus, Wohnung, Hof, Einrichtung und Geräte heute näher als die Natur. Das alles, das Selbst-Gemachte, ist aber auch nicht gleich «Technik», denn auch «Technik» ist (wie «Natur») ein abgeleiteter Begriff. Was uns zuhause begegnet, sind recht unmittelbar konkrete Geräte und Einrichtungen, es ist Haushalt, Handwerk und eigene Gestaltung.
In den immer noch bäuerlichen Lebensstilen der Alpen oder anderen Bergregionen, noch mehr aber in den nomadischen oder teilnomadischen Lebensstilen etwa in der Mongolei, in Afrika oder – oft nur noch in Reminiszenzen – in Amerika, ist die Nähe zur Natur immer noch Teil einer existentiellen Erfahrung, und Technik ist und bleibt da wohl auf lange Zeit eher das, was sie im Kern ist: Nützliches Hilfsmittel, das aber sehr unmittelbar wahrgenommen und benutzt wird.
Verstehen wir das, was wir «Leben» nennen?
Ein Blick zurück in die europäische Geschichte kann uns vielleicht weiterhelfen, uns selbst zu verstehen: Sehr früh in unserer Geschichte hat man versucht, den Unterschied zwischen «lebendigem Sein» (griechisch «zoe», davon «zoon», das Lebewesen) und eher «zielgerichtetem Leben» («bios») begrifflich zu fassen. Das ist rund 2500 Jahre her (so genannte Vorsokratiker, danach überhaupt die Philosophenschulen). Doch selbst der grosse Naturforscher, Philosoph und Lehrer Aristoteles hat die beiden Begriffe «zoe» und «bios» in seinem gigantischen Gesamtwerk vermutlich nicht ganz einheitlich verwendet.
Und in der späteren, der lateinischen Tradition gab es nur noch einen einzigen Begriff für Leben: «Vita». Doch genau da kommt dann auch unser Wort «Natur» auf (ursprünglich von nasci „entstehen, entspringen, seinen Anfang nehmen, herrühren). Sehr bald wurde dann auch das Wesen einer Sache mit «natura» bezeichnet. Und «Leben» wird vieldeutig.
Und fast nur in unseren wissenschaftlichen Begriffen «Zoologie» oder «Biologie» fanden die alten griechischen Worte noch eine Spiegelung, wobei die Biologie zu einem Überbegriff wurde für alle Lebensformen (so bei dem Basler A. Portmann; «Vom Lebendigen», erschienen 1973).
Und überhaupt ist es interessant, dass heute die Tendenz besteht, Wissenschaft generell als «Natur»-Wissenschaft zu verstehen, wobei wir je länger je mehr, die methodischen Schwerpunkte auf logisch-mathematische Verfahren legen und all zu oft das Quantitative in den Vordergrund stellen. Deskriptives Herangehen, das immer noch einen wesentlichen Teil z.B. der Biologie oder der Geografie bestimmt, scheint in seiner Bedeutung demgegenüber abzunehmen. Muss «Natur» messbar sein, damit wir sie verstehen können, damit wir ein Verhalten zu ihr und in ihr entwickeln können?
Exkurs ins Wesentliche: Die Schönheit der Natur
Was kaum messbar ist, ist ein in seiner Bedeutung nicht überbewertbares Phänomen (es ist ein Superlativ!): Die Schönheit des Natürlichen. Wir vergessen allzu oft, dass unsere Körperlichkeit auch unsere Schönheit ausmacht. Auch wenn wir uns selsbt vielelicht völlig anders empfinden. Paradoxerweise geschieht dies, obwohl wir ständig «schöne Körper» zeigen. Doch alles kann schön sein: Stimme, Rede, Körper, Pflanzen, Tiere und eben die «ganze Natur». Auch «ich» kann schön sein.
Es ist – im letzten Sinne – ein Exkurs ins Wesentliche der Natur als Ganzer: Schönes kann sich – über alle selbstverständliche Attraktivität hinaus – zur «Erhabenheit» (nach Kant) steigern, und gerade zur «Herrlichkeit» (so der Basler Theologe Urs v. Balthasar) auswachsen. «Wir können ein Lied davon singen», sagen wir.
In der Schönheit wächst der Bereich des Physischen aber über sich selbst hinaus. Darauf haben schon Viele hingewiesen: Der Betrachtende erkennt in der Gestalt des Schönen die Gestaltung – hinter der wir oft eine Person vermuten – , und er vermutet oder erkennt etwas, was alles sprengt, was er oder sie «sonst» sieht.
Schönheit enthebt uns der Alltäglichkeit. Und Kunsttherapie kann alleine schon dadurch zu einer wirksamen Therapieform werden: «Eintauchen in eine andere Welt». Für die Therapiebedürftigen kann es eine «besser Welt» werden.
«Bios» als Leben von uns Menschen
«Bios» als menschliches Leben, das kann man aber vermutlich sagen, wurde schon in den griechischen Schulen immer in einer Art Verschränkung mit der physischen Existenz verwendet. Klarer: Bios des Menschen hiess damals immer, dass der Mensch ein «zóon logon echon» bleibt, ein Lebewesen, das Sinn (und Sprache!) sucht und Einsicht hat (Platon) und ein «zóon politikon» (Aristoteles), ein Gemeinschaftswesen, das in sozialer Interaktion die Welt verändert.
Das «Bios» des Menschen folgt – im Versuch eine heutige Ausdrucksweise zu verwenden – einem komplexen Paradigma, zielgerichtet, sinnbegabt, zutiefst auf Sprache und Gemeinschaft hin angelegt und in ihr handelnd.
So gesehen, ist wirklich «alles Bio», was wir machen, was wir sind. Und es ist gut, dass wir dafür keine EU-Norm («Nr. 834/2007, Öko-Verordnung») brauchen.
Wir «brauchen» (als wäre das ein moralisches Postulat) auch keine Beziehung zu dieser «Doppel-Natur» unserer Umwelt, der natürlichen und der unmittelbar-technischen, die uns täglich umgibt: Wir haben sie immer schon. Sie ist konstitutiv für unsere Existenz.
Anders: Wir stehen zu der Doppel-Natur von Natur und selbstgeschaffener Umwelt immer schon in einem existentiellen Verhältnis. Dieses Verhältnis kann «glücken», dann ist es glücklich. Es kann aber auch in «Scheite zerfallen», dann scheitert es.
Scheitern als Grunderfahrung
Da gibt es nämlich noch etwas anderes zwischen Geboren-Werden («nasci», wir hatten das schon am Anfang des Textes) und Dahinscheiden. Und das gibt es schon zutiefst in unserer «natürlichen Umwelt»: Wenn wir alles, was wir mit «Natur» bezeichnen können, auch vor dem Hintergrund ihrer «Fehlfunktionen», ihres Scheiterns, Versagens, ihres Nicht-Genügens, sehen, dann werden wir am ehesten erkennen können, was sie uns in der Tiefe bedeutet:
Wir leben nur in dieser Natur, die wir sind, wir leben mit ihr und durch sie (im Sinne eines Ermöglichungsgrundes), und wir sterben nur in ihr, mit ihr und durch sie. Leben ist für uns Natur und Lebensumwelt in tiefer Verschränkung, aber diese Natur gibt – samt der von uns geschaffenen Lebens-Umwelt – ebenfalls das Setting für unseren Tod ab.
Immer ist es für uns auch UNSER Leben, und immer ist es für uns auch UNSER Tod. Wir können dem nicht entrinnen. Es ist UNSERE Gesundheit (wir fragen «Wie steht es um Deine Gesundheit?»), und wir reden von UNSERER Krankheit. Und immer, unausweichlich gestalten wir eine Beziehung zu diesen Rahmenbedingungen unseres Lebens. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Die Herausforderung schlechthin: Mangel
Und nur, wenn wir dies als Aufgabe, als Herausforderung erkennen und annehmen und wir versuchen, diese Aufgabe zu lösen und unsere Grundverhältnisse gezielt gestalten, geben wir «der Zeit zwischen Anfang und Ende», der Zeit unseres Lebens, einen Sinn.
Sinn, ja es gehört zum Sinn unseres Lebens, dass wir auch unseren Körper wahrnehmen und mit ihm umgehen. Dass wir unser Essen gestalten, unser Schlafen, unser Miteinander-Schlafen, unser Wachen und Träumen. Dass wir unseren Garten bebauen, uns bewegen und therapieren, dass wir singen, tanzen und sprechen. All das ist zutiefst in unserer Leiblichkeit verankert. Und die wenigen Beispiele sind alles andere als vollständig.
Alles das sind wir aber, und es ist uns gleichzeitig eine Verpflichtung. Alles, was wir sind, hat eine tiefe physische Ebene, eine körperliche Bedeutung. Und all das ist uns – ob wir es wollen oder nicht – eine unausweichliche und bisweilen «widerständige» Aufgabe.
Alles, was wir sind und machen, kann gelingen oder scheitern. Und das betrifft in existentieller Weise unsere eigenen Körper und die Natur in der und mit der wir leben. Und wir sind sehr gut beraten, das Gelingen zu begünstigen, dem Misslingen vorzubeugen und, falls es eintrifft, aus dem Scheitern heraus neue Anfänge zu versuchen.
Verhalten gestaltet Verhältnisse
«Alles Bio?», ja und nein. Das sind grosse Themen, die vor allem wegen der hohen Komplexität unserer Lebensverhältnisse oft schwer zu bewältigen sind: Unser körperliches Sein, elterliche und Partner-Körper, eigene und fremde Sexualität, Ernährung, Natur als Aufgabe, als Erholungsort, als «Garten», Tier- und Pflanzenwelt. Und eben auch schon «in der Natur» entsteht unser Verhältnis zu dem «Selbst-Gemachten», zu der Technik. – Letztere wird uns, in der Fortsetzung dieser Artikelserie, auf allen weiteren Ebenen unserer Beziehungsgefüge begegnen.
Selbstverständlich ist all das nicht. Denn nicht nur «die Natur» kann scheitern (Krankheit, Fehlfunktionen), sondern auch «wir in ihr» (Fehlverhalten, Fahrlässigkeit, Schuld). Und dann ist es an uns, uns aufzumachen: Zu einem besseren Verhältnis zu uns selbst, zu unserer Natur, zu unseren Nächsten. Und eine «helfende Hand», die einem zurück- oder auch weiterhelfen kann zu einem den Wechselfällen des Lebens angepassten Verhalten, die ist eigentlich immer da. Wir sind Gemeinschaftswesen.