Schuld.
Sie hatte mit einem Male eine drückende Last empfunden. Es war etwas Unabweisbares, etwas das sie nicht einfach wieder gutmachen konnte.
Nein, es waren nicht Anzeigenrechnungen ihrer Regionalzeitung, die sie in dem Glauben aufgegeben hatte, ihr Studio für Interior Design würde dadurch neue Kunden gewinnen. Die aber nicht gekommen waren.
Es war auch nicht die Rechnung des Internet-Providers, die ihr übermässige Sorgen bereiten würde. Da könnte sie noch eine Lösung finden, Zweithandy kündigen, Leistung reduzieren und Ratenzahlung. Reset, sozusagen.
Es waren die Dinge, die sie nicht mehr rückwirkend ungeschehen machen konnte. Ihre heranwachsenden Kinder, 18 und 14 Jahre alt, musste sie in den vergangenen drei Jahren ihres Geschäftsaufbaus zunehmend alleine lassen. Stunden, Tage, Monate, Jahre, die nie wieder kommen würden.
Auch ihrem Partner, ein wenig älter als sie und müde geworden, hatte sie sich in den regelmässigen 6 1/2 -Tage-Wochen und 15-Stunden-Tagen entfremdet. Sie liebten sich, ja, aber fast wie von Ferne, innerlich Meile für Meile zwischen sich auftürmend. Seltene Begegnungen, noch seltenere Vereinigungen.
Noch schlimmer: Aus ihren vielen Freundinnen von früher waren mittlerweile nur noch entfernte Bekannte geworden, Hallo-wie-geht-es-Dir-denn-Begegnungen. Verzichtbare Schatten sicher geglaubter Verbindungen.
Und mehr als nur ein Kunde hatte ihr recht unverhohlen allzu private Avancen gemacht, fast primitiv gemachte Anträge, denen sie zwar in der Realität nicht erlegen war, die sie aber in ihrer inneren Welt auf – wie sie fand – unanständig, aber unabweisbar reizvolle Weise verfolgten.
Sie war einsamer und einsamer geworden in ihrem – sie formulierte es für sich sarkastisch – «Geschäfts-Universum mit privaten Nebenklängen». Ihr einstiger Traum war einem heraufdämmernden Trauma näher als einem sonnigen Erwachen in einer Alles-ist-gut-Welt.
Ein Lachen hätte ihr gutgetan, einfach ein Lachen. Aber es gab nichts zu lachen. Menschlich schon gar nicht, und geschäftlich lief es immer schlechter. Schuld war es, was sie empfand. Noch gab es keine andere Anklägerin als sie selbst. Aber sie fühlte sich unabweisbar schuldig, das stand fest.
Scham.
Ja, sie empfand sogar Scham: Das hatte sie in der Form doch nicht gewollt! Und doch hatte sie – bei brüchigem Erfolg in ihren Geschäften – alles andere an den Rand der Zerrüttung gebracht. In ihr war der Wunsch lebendig, sich zu verbergen, irgendwie nur noch äusserlich an dieser Welt teilzunehmen. So eben, dass niemand die Schuld bemerkte, die sie – als wäre es ein unsichtbarer Schleier – um sich zu spüren glaubte.
Sie wurde wortkarger, abweisender, und selbst Kunden hatten plötzlich den Eindruck, sie sei im Grunde nicht ganz bei der Sache.

Als ihr der wie immer wortgewandte Kommunikationsberater eine neue Serie von Presseberichten vorschlug, oder einen eigenen Interior-Design-Blog oder eben einen guten Social-Media-Auftritt, wies sie ihn schroff ab. Nicht, weil das eine oder andere – wie der Design-Blog – ihr eine Idee von gestern zu sein schien. Auch nicht, weil sie die Rechnungen der Zeitung sowieso nicht bezahlen konnte. Sondern weil sie sich nicht ernsthaft outen wollte. Niemand sollte auch nur erahnen, dass sie sich über ihre Lage schämte. Sie war ehrlich genug, an sich selbst zu zweifeln.
Schande.
Als dann eines Morgens der Postbote mit einer Betreibungsurkunde des Gerichtsvollziehers auftauchte, war ihr Laden gerade voll mit Kundinnen. Ihre Unterschrift, als sie den Empfang quittierte, blieb nicht verborgen. Und als zwei Tage später ihre 14jährige mit der Frage nach Hause kam, ob sie jetzt pleite sei, wurde ihr klar, dass es sich schon herumgesprochen hatte. Von den Kunden zu den Kindern und – ihre Angst gaukelte es ihr vor – überall im Ort.
Nein, sie war nicht pleite. Da war sie sicher. Aber sie empfand den sich gerade verbreitenden schlechten Ruf als eine Schande. Ihr Kopf raste, ihr Herz – bereits mutlos geworden – ermattete nun gänzlich.
«Lächle», erinnerte sie sich an einen bösen Scherz, «lächle, es könnte schlimmer kommen». Und anfangs hatte sie noch gelächelt, und dann war es schlimmer gekommen.
Nein, verloren war noch nichts. Aber der Schatten über ihr war lang und breit und dunkel.