Es hat wohl jede Zeit gedacht, sie sei die verruchteste. So auch die unsrige. Doch wie sehr in unseren Gesellschaften das «Mass verrutscht» ist, konnte man schon am allerersten Tag des Jahres 2020 sehen. Zwei kleine Beispiele:

Die bekannte in Frankfurt am Main erscheinende Zeitung veröffentlicht an diesem 1.1.2020 einen Kommentar des dort verantwortliche Redakteurs für «Zeitgeschehen», Dr. Reinhard Müller. Es geht um die masslosen Ausschreitungen, die in der vorangegangenen Silvesternacht einem 38jährigen Polizisten fast das Leben gekostet hätten. Zurecht bemerkt der gelernte Jurist in seinem Kommentar, dass dies ein «Angriff auf uns alle» war. Seine Begründung kann man hier nachlesen:

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/attacke-auf-polizist-in-leipzig-ein-angriff-auf-uns-alle-16561198.html

Er schreibt am Ende, dass sich in den «sozialen Medien» eine Verrohung – straflos! – ausbreiten darf, die in der «realen Welt» niemals konsensfähig, und damit niemals rechtsfähig wäre. Und weiter: » … die Überschreitung der gemeinsam gesetzten Grenzen muss Folgen haben. Denn sie ist ein Angriff auf alle.» In der Konsequenz des Gedankens muss man zu dem – bereits allseits «gefühlten» – Schluss kommen, dass uns in weiten Teilen des Internets die Kontrolle über das Recht entglitten ist. – Was das bedeutet, mag man gar nicht niederschreiben. Doch umso mehr muss es uns allen daran gelegen sein, dass unser Umgang miteinander von Respekt und Achtung getragen ist. Und das geht weit über den vom Gesetz gesetzten Rahmen hinaus.

Die vielleicht typisch deutsche Hoffnung auf die vermeintliche Allmacht und die mittlerweile übel verblichene «Überlegenheit» deutschen Organisations-Genies wurde am darauffolgenden Tag, dem 2.1.2020 dann nochmals düpiert durch die Meldung der selben Zeitung, die chronisch defiziente (nicht «defizitäre») Deutsche Bahn sei drauf und dran nun auch im Vereinigten Königreich eine wichtige Lizenz wegen Unpünktlichkeit zu verlieren.

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/arriva-der-deutschen-bahn-droht-verlust-von-northern-rail-16562204.html

Der Vorgang könnte mit erheblichem Recht als Randnotiz gehen. Es ist jedoch die Fülle solcher «Randnotizen», die sich immer mehr ins Zentrum des Bewusstseins der Bevölkerungen in Europa schieben. Es geht der Schweizer Bahn ja auch nur wenig besser. So entstehen «Haar-Risse» in dem bislang so felsenfest erscheinenden Fundament des Machbarkeits-Glaubens, und irgendwann könnte es zum «Felssturz» kommen: Das Vertrauen in die Institutionen schwindet, das Vertrauen in die Unternehmen schwindet, das Vertrauen in die Politik ist – abgesehen vielleicht von der örtlichen Verwaltung – schon lange dahin.

Was aber kommt dann? Wem werden wir noch vertrauen?

Denn auch die Religion ist ja in Verruf geraten, und am vergangen Weihnachtsfest hat sich sogar der Papst in Rom darüber beschwert, das Christentum würde «lächerlich» gemacht. Und fast wehmütig denkt man da bisweilen an das zu Unrecht als völlig «finster» in Verruf geratene Mittelalter, indem man noch einen sehr breiten Wertekonsens in den europäischen Gesellschaften vorfand. Auf eben jener christlichen Basis. Mit zum Teil sehr grossem Respekt vor den grossen Religionen der weiteren Umgebung. Um das zu sehen, müssten wir nur die Brille einmal «herumdrehen», die uns die seit Generationen eingehämmerten Phrasen gezimmert hat. Heute leben wir ja in einer Welt, vor der sich die Menschen des Mittelalters fast so sehr gefürchtet hätten wie vor der Unterwelt.

Doch seit den Gründertagen der christlichen Religion wissen deren Anhänger, dass solche Tage kommen werden. Ihr Gründer hat ausführlich und mit erkennbarer Erschütterung darüber gesprochen. Der Evangelist Matthäus zum Beispiel berichtet darüber. Und erst recht sein «Kollege» Johannes.

Und es ist die Kernsubstanz des christlichen und jüdischen Glaubens, dass wirkliche Hilfe nur «vom Himmel» kommt. Vermutlich haben wir das an Weihnachten «irgendwie übersehen»… Und gerade deshalb ist es unsere Aufgabe, die verbindlichen Wertesysteme, die wir in – wie ich meine – guten Prozessen erarbeitet und beschlossen haben zu verteidigen. Es kann nur unsere Aufgabe sein, Qualitäten wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit und Treue auch durch moralische Postulate – weit über das gesetzlich Geforderte hinaus – zu schützen. Das Lamento alleine (nach dem weihnachtlichen Lametta sozusagen) begründet keine Festigkeit unserer Haltung. Wir müssen handlungsfähig bleiben.

Der Autor der Frankfurter Allgemeinen hat ja offensichtlich im doppelten Sinne recht: moralisch wie juristisch, wenn er sich gegen die diabolische Gewalt auf den Leipziger Strassen stellt. Es kann und darf aber nicht sein, dass wir schon am Anfang des Jahres, wie von Entsetzen gelähmt, als letzte Massnahme sozusagen, hilflose Appelle an die «Verantwortlichen» senden. Denn verantwortlich sind wir alle. Jeder an seinem Platz. Jeder auf seine Weise.

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