Familien folgen Mustern, weiss man. Doch welchen Mustern folgen besonders erfolgreiche Familien? Das Beispiel der Giacomettis.

„Ich bin der einzige Nicht-Künstler der Familie“: Als Marco Giacometti am Abend des 8. August mit diesem Satz seinen exzellenten Vortrag über die vergangenen 200 Jahre seiner berühmten Familie in der Kandersteger reformierten Kirche einleitet, ist der erste Aha-Effekt bei den gut 100 Zuhörern bereits ausgelöst. Was hat die Giacomettis derart charakteristisch geprägt? Was hat sie so erfolgreich gemacht? Waren es anfangs nicht einfach Bergbauern aus dem Bergell, wie viele andere auch?

Und dann stellt sich Marco Giacometti vor die Reproduktion der berühmten Statue seines heute weltweit bekannten Vorfahren Alberto, als ob er die Kontinuität dieser bemerkenswerten Familiengeschichte betonen wollte: Der «Mensch, der erklärt», also der Tiermediziner Marco Giacometti, vor der Abbildung des «Menschen, der geht» («L’homme qui marche»), wie der Titel des vielleicht berühmtesten Werkes von Alberto Giacometti heisst.

Es ist ausgeprägte Beobachtungsgabe, unermüdliche Arbeit und ein «Sinn für das Ganze», für die grossen Züge, die sich in den feinen Details ausprägen, die sie beide vereint, Marco und sein Vorfahre Alberto. «Bildung und Kultur», erklärt Nachfahre Marco dann das Bemühen seiner Vorfahren, «… sind der wesentliche Bestandteil unseres Familienerbes».

Stationen der Familiengeschichte

Wirklich greifbar wird die ausgeprägt künstlerische Tradition der Giacomettis seit rund 200 Jahren, und die Protagonisten dieser Entwicklung sind – so scheint es zunächst – ausschliesslich Männer:

Da ist zunächst der in Warschau, Bergamo und schliesslich im Bergdorf Stampa arbeitende Bäcker Augusto, der noch aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammte und seine Frau Caterina, deren Sohn Giovanni (geb. 1868 in Stampa), zu den ersten bemerkenswerten und international anerkannten Künstlern der Familie zählte. Ein enger Freund von Giovanni Segantini, war er zunächst vom Stil des Impressionismus beeinflusst, bevor er dann seinen eigenen Kunststil entwickelte.

Giovanni zählt zu den Begründern der modernen Malerei in der Schweiz. 1918-21 und 1931-32 gehörte er der Eidg. Kunstkommission an. Sein erster Sohn war Alberto Giacometti, die spätere Berühmtheit.

Neben Giovanni wurde aber zunächst sein Vetter Augusto berühmt, der eine lange künstlerische Entwicklung durchmachte, die sich zum Teil in monumentalen Werken äusserte (z.B. Fenster im Zürcher Grossmünster). Bekannt sind auch seine Kirchenfenster in der Kirche St.Johann (Davos) und der Dorfkirche in Adelboden (unter dem Titel «Getsemani»). Schon 1934 Mitglied der Schweizerischen Kunstkommission, war er 1939 – 1947 deren Präsident.

Alberto, der Gipfelstürmer

Dann aber «der Giacometti» schlechthin: Alberto. Als das Auktionshaus Sotheby’s in London am 3. Februar 2010 Alberto Giacomettis Werk «L’homme qui marche» für £65 Millionen verkaufte, war dies die teuerste je verkaufte Skulptur der Welt.

Es war jedoch auch die eigenwillige und stets etwas versonnen wirkende Persönlichkeit des zumeist in Paris lebenden Künstlers und Denkers («Ich verstehe weder den Tod noch das Leben»), die Alberto zu grösster Berühmtheit weit über die Schweiz hinaus verhalf.

Es gelang Marco, dem Präsentator der Familiengeschichte der Giacomettis, in Kandersteg eine durchgehende Linie der sich – auch in zunächst bäuerlich-handwerklichem Umfeld bewegenden – kulturell mit eigenem Anspruch auftretenden Giacomettis in starken, klaren Linien nachzuzeichnen.

Zum Überleben dem Erfolg verpflichtet

Was eine erfolgreiche alpine Familie denn nun ganz allgemein ausmache, wurde er abschliessend gefragt: Die Frage brachte den redegewandten Marco Giacometti zum Nachdenken. Doch die Antwort kam schnell: Um zu überleben musste man in den Alpen oft aussergewöhnlich gut sein, egal was man für einen Beruf ausübte.

Bei den Giacomettis führte dieser Weg über Bauern, Bäcker, Zuckerbäcker in ganz Europa, Künstler und Lehrer buchstäblich in die «halbe Welt». Zuhause sind die italienischsprachigen Giacomettis aber bis heute im Bergell, vor allem im Bergdorf Stampa.  

Auch Marco Giacometti kehrte – nachdem er lange Universitätslehrer und Geschäftsführer bzw. Mediensprecher des Schweizer Jägerverbandes «JagdSchweiz» gewesen war – dem Stadtleben den Rücken. Und seit einigen Jahren unterrichtet er Mathematik, Geografie und Biologie als Sekundarlehrer in Bregaglia, nahe Stampa.

Sein Herz aber schlägt da, wo nach eigenem Bekunden sein Ehrgeiz eine neue Form gefunden hat: Im 2013 neu geschaffenen «Centro Giacometti» (http://www.centrogiacometti.ch/ ). Dort will Marco Giacometti «die Begegnung der Künstler mit dem Bergell aufdecken. Wer in die Heimat der Künstler kommt und dort die Landschaft und die lokale Kultur erkundet, wird vollkommen neue Giacomettis erleben.» – Schon der erhellende Vortrag in Kandersteg hat hier einen ersten Schritt ermöglicht.

Der Artikel erschien am 13. 8. 2019 im „Frutigländer“

Schreiben Sie einen Kommentar